August 2025
Daniel Frei, Mitinitiant des Gesetzes, spricht über das neue Selbstbestimmungsgesetz.
VESO Perspektiven: Selbstbestimmt entscheiden (SEBE) – das ist die Grundidee, die hinter dem Gesetz steht. Das Gesetz hat das Ziel, Menschen mit Behinderungen eine gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen. Was bedeutet das konkret für Sie?
Daniel Frei (DF): Ich spreche gerne vom «Normalisierungsprinzip». Das heisst, Menschen mit Behinderungen haben dieselben Rechte und Pflichten wie alle anderen. Sie können selbst entscheiden, wie sie leben und von wem sie Unterstützung erhalten möchten. Das ist theoretisch ein Menschenrecht und basiert auf der UNO-Behindertenrechtskonvention, aber nur weil etwas auf dem Papier steht, heisst das nicht, dass es auch umgesetzt wird. SEBE ist aus der Erkenntnis entstanden, dass es im Kanton Zürich Verbesserungspotenzial gibt. Bisher erfolgte die kantonale Finanzierung direkt und ausschliesslich an die Institutionen. Neu erhalten nun die betroffenen Personen über Gutscheine (Voucher) die Möglichkeit, sich selbst ihren Anbieter auszusuchen und aus verschiedenen Leistungen auszuwählen. Man nennt dieses System Subjektfinanzierung. Mit SEBE-Gutscheinen können Leistungen abgedeckt werden, die nicht über die IV oder die Krankenkassen bezahlt werden, wie beispielsweise die Unterstützung bei Alltagstätigkeiten in der eigenen Wohnung.
VESO Perspektiven: SEBE stellt also einen Paradigmenwechsel in der Finanzierung von Betreuungsleistungen dar. Die Umsetzung erfolgt in einem partizipativen Prozess. Wie sieht dieser Lernprozess aus und wo stehen wir heute?
DF: SEBE ist ein Generationenprojekt. Wir stehen noch am Anfang. Menschen mit Behinderung, ihre Angehörigen, die Institutionen sowie die weiteren Dienstleister erarbeiten sich aktuell nach dem Trial-and-Error-Prinzip einen gemeinsamen Weg. Es braucht ein gemeinsames Umdenken und wir müssen bestehende Strukturen loslassen. Niemand weiss genau, wohin die Reise geht. Das braucht Geduld. Wir von ARTISET Zürich sind überzeugt, dass es jetzt viel Befähigung auf allen Seiten braucht. SEBE muss flächendeckend bekannt werden. Bei Informationsveranstaltungen erlebe ich immer wieder, dass vielen Menschen nicht bewusst ist, dass die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen noch weit entfernt ist. Es ist wichtig, darüber zu sprechen.
VESO Perspektiven: SEBE hat einen erheblichen Einfluss auf den Sozialmarkt und wirkt sich auch auf die individuellen Betreuungsnetzwerke aus. Wie nehmen die betroffenen Personen diese Veränderungen wahr?
DF: Für die betroffenen Personen und ihre Angehörigen bedeutet mehr Selbstbestimmung auch mehr Selbstverantwortung. Sie müssen selbst entscheiden, welches Angebot ihren Bedürfnissen entspricht. Der Kanton seinerseits muss sich von seinem hoheitlichen Verständnis lösen. Bisher kontrollierte er den Sozialmarkt stark, nun gibt es mehr unternehmerische Freiheit. Anfangs war es umstritten, ob nur Fachpersonen als Anbieter in Frage kommen sollten oder auch Angehörige und andere Personen. Es war der politische Wille, eine Öffnung zu erwirken. Dies führt zu neuen Möglichkeiten, aber auch Herausforderungen wie beispielsweise in der Qualitätssicherung. Für die Institutionen bedeutet das Gesetz ein Bekenntnis des Kantons zur Institutionslandschaft. Sie sind und bleiben ein wichtiger Pfeiler in der Betreuungskette, aber es gibt im Sinne einer Ergänzung und der Wahlfreiheit nun mehr Alternativen. Die Ausgangslage ist anspruchsvoll, denn es herrscht Fachkräftemangel und ein hoher Kostendruck. Gleichzeitig gibt es auch einen neuen Gestaltungsspielraum, der Innovation fördert und eine gemeinsame Weiterentwicklung ermöglicht.
VESO Perspektiven: Bisher wurden 80 Voucher beim Kanton beantragt. Wie gross ist das Nachfragepotenzial?
DF: Das ist schwierig zu beziffern. Im Kanton Zürich leben etwa 180 000 Menschen mit einer Behinderung. Allerdings fordern nicht alle, die anspruchsberechtigt sind, die Leistungen ein. Gerade von älteren Menschen mit Behinderungen habe ich die Rückmeldung erhalten, dass sie SEBE eine gute Sache finden, aber sie selbst nicht davon Gebrauch machen werden. Sie fühlen sich in ihrer Institution wohl und sind mit ihrer Betreuung zufrieden. Es ist ihr gutes Recht, auf die Leistungen zu verzichten. Manchmal entsteht die falsche Erwartung, dass alle dankbar und von SEBE begeistert sein müssen. Ich denke, den grössten Effekt wird SEBE für junge Menschen entfalten, die anders sozialisiert sind und mit dem Erreichen des Erwachsenenalters direkt in das neue System mit seinen Wahlmöglichkeiten kommen.
VESO Perspektiven: SEBE ist für Menschen mit Behinderung über 18 Jahre, die eine IV-Rente oder eine Hilflosenentschädigung haben. Das Gesetz schliesst allerdings Minderjährige oder Personen, die bereits das Pensionsalter erreicht haben, aus. Weshalb?
DF: Hier stossen wir auf ein Systemproblem. Bei der Pensionierung wechselt eine Person von der Invalidenversicherung (IV) in die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV). Unser Finanzierungssystem fokussiert stark die einzelnen Kassen. Es gehört zu den politischen Hausaufgaben, dieses Thema auf nationaler Ebene anzugehen und dafür zu sorgen, dass künftig die Bedürfnisse der Menschen im Mittelpunkt stehen. Ideal wäre ein altersunabhängiges und durchlässiges System, quasi «von der Wiege bis zur Bahre».
VESO Perspektiven: Gibt es einen Punkt, den wir bisher nicht besprochen haben und der Ihnen wichtig ist?
DF: SEBE ist ein Generationenprojekt und damit auch ein Gemeinschaftsprojekt. Es kann nur erfolgreich sein, wenn alle Beteiligten mitmachen und ihren Teil der Verantwortung übernehmen. Es ist zukunftsorientiert, und es ist grossartig, dass der VESO aktiv daran mitwirkt und den Wandel mitgestaltet. Ich wünsche dem VESO und allen beteiligten Anbietern, dass sie den neuen Pfad mit einer gewissen Gelassenheit beschreiten und agil bleiben. Mit dem Selbstbestimmungsgesetz haben wir die Chance, dass sich für die Menschen gemäss dem Normalisierungs- und Bedarfsprinzip wirklich etwas verändert.